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Die Gynäkologie
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Publiziert am: 12.07.2022

Typische und atypische Geschlechtsentwicklung: Grundlagen, Diagnostik und Therapie

Verfasst von: Marie-Lou E. Nussbaum und Christa E. Flück
Seit der Entdeckung der Geschlechtschromosomen und der Beschreibung des ersten, das Geschlecht determinierenden Gens SRY, vermehrt sich das Wissen über die menschliche Geschlechtsentwicklung rasant. Trotzdem sind wir heute noch bei der Hälfte der Menschen mit einer angeborenen Variante der Geschlechtsentwicklung nicht in der Lage, die Ursache auf molekularer Ebene zu klären. Während die Biologie für den Menschen meist entweder ein weibliches oder männliches Geschlecht vorsieht, ist diese Einteilung bei vielen Varianten der Geschlechtsentwicklung in Frage gestellt. Weiter stellt sich die Frage, was das Geschlecht eines Menschen letztlich ausmacht und ob eine Variante medizinische Diagnostik und Therapie benötigt. Dieses Kapitel fasst das aktuelle Wissen über die Geschlechtsentwicklung des Menschen zusammen, um Varianten besser zu verstehen. Außerdem werden die aktuellen diagnostischen Methoden und Abklärungsalgorithmen vorgestellt und Behandlungsmöglichkeiten erläutert.

Einführung

Seit der Entdeckung der Geschlechtschromosomen zu Beginn des letzten Jahrhunderts und der Beschreibung des ersten, das Geschlecht determinierenden Gens SRY um 1990, vermehrt sich mit den aktuellen molekulardiagnostischen Methoden das Wissen über die menschliche Geschlechtsentwicklung immer rasanter.
Trotz dieser Entwicklung sind wir heute noch bei der Hälfte der Menschen mit einer angeborenen Variante der Geschlechtsentwicklung nicht in der Lage, die Ursache auf molekularer Ebene genau zu klären.
Während die Biologie für den Menschen meist entweder ein weibliches oder männliches Geschlecht vorsieht, ist diese binäre Einteilung bei vielen Varianten der Geschlechtsentwicklung infrage gestellt.
Es stellt sich grundlegend die Frage, wie das menschliche Geschlecht verstanden und differenziert wird, und welche soziale und gesellschaftliche Rolle es spielt. Entsprechend werden Bedürfnisse und Notwendigkeiten der medizinischen Diagnostik und Therapien bei Varianten der Geschlechtsentwicklung beeinflusst.
Dieses Kapitel fasst das aktuelle Wissen über die Geschlechtsentwicklung des Menschen grundlegend zusammen, um schließlich auch Varianten besser zu verstehen. Außerdem werden die aktuellen diagnostischen Methoden und Abklärungsalgorithmen vorgestellt und Behandlungsmöglichkeiten diskutiert.

Biologische Geschlechtsentwicklung

Grundlagen

Geschlecht wird in unterschiedliche Dimensionen unterteilt und unser Körper ist nur eine davon. Die somatische Geschlechtsentwicklung wird charakterisiert nach chromosomalem Geschlecht, gonadalem Geschlecht sowie den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen. Eine weitere Dimension ist die Identität, also unser psychisches Geschlecht.
Die binären charakteristischen Merkmale für weiblich und männlich sind in Tab. 1 zusammengefasst. Außerdem findet die Geschlechtsentwicklung zum großen Teil in utero statt, setzt sich aber nach der Geburt kontinuierlich fort und erlangt mit der Pubertät die ausgereifte Form, welche zur Reproduktionsfähigkeit befähigt. Obwohl die Geschlechtsentwicklung genetisch programmiert ist, spielen Umweltfaktoren auch eine entscheidende Rolle.
Tab. 1
Ebenen der normativen Geschlechtsentwicklung mit binärer Ausprägung
Parameter
Haupt-Schauplatz
Weiblich
Männlich
Zeitpunkt
Geschlechtsdeterminierung (Keimdrüse)
Genetisches Geschlecht
46,XX
46,XY
0
Gonadales Geschlecht
Keimdrüse/Gonade
Determinierung der Eierstöcke (Ovarien)
Determinierung der Hoden (Testes)
3.–7. Gestationswoche (GW)
Geschlechtsdifferenzierung
Inneres Genital
Embryonale Müller- und Wolff-Strukturen
Differenzierung der Müller-Strukturen zu Eileiter (Tuben), Gebärmutter (Uterus) und oberem Drittel der Scheide (Vagina); Verkümmern der Wolff-Strukturen
Differenzierung der Wolff-Strukturen zu Samenleiter (Ductus deferens), Samenblase (Vesicula seminalis) und Nebenhoden (Epididymis); Verkümmern der Müller-Strukturen; Utriculus und Prostata
8.–24. GW
Äußeres Genital
Neutralanlage mit Genitalhöcker
Schutz vor Androgenen zur Ausbildung der Vulva (Klitoris, Schamlippen, Scheideneingang (Introitus) und des unteren Anteils der Vagina
Unter dem Einfluss von Androgenen (T/DHT) bilden sich Hodensack (Skrotum) und Penis, inkl. Harnröhrenverschluss
Ab 6.–8. GW
Sekundäre Geschlechtsmerkmale und Sexualfunktion
Sekundäre Geschlechtsmerkmale
 
Brust, weibliche Behaarung und Körperbau (mehr Fettmasse); Schweiß und Akne
Stimmbruch, männliche Behaarung (Bart etc.) und Körperbau (mehr Muskelmasse); Schweiß und Akne
Ab Pubertät
Geschlechtsspezifische Sexualfunktion und Reproduktionsfähigkeit
Aktivierung des Systems durch Hormone aus dem Hypothalamus (GnRH) und der Hypophyse (LH/FSH)
Östrogen/Gestagensynthese und Produktion von reifen Eizellen; Menstruationszyklus, Eisprung; Libido
T/DHT und Spermien Produktion; Erektion, Ejakulation; Libido
Geschlecht jenseits des Körperlichen
Psychisches Geschlecht
Geschlechtsidentität
Kongruent weibliche Geschlechtsidentität
Kongruent männliche Geschlechtsidentität
Wesentlich ab Geburt, nach intrauteriner Prägung

Geschlechtsdeterminierung

Mit der Befruchtung einer Eizelle durch ein Spermium wird der genetische Grundstein für das chromosomale Geschlecht des Embryos gelegt. Dieses ist normalerweise 46,XX für einen weiblichen Embryo und 46,XY für einen männlichen. Aus dem Genmaterial der Chromosomen wird dann sehr früh im embryonalen Leben, in der 6. Schwangerschaftswoche, die vorerst neutrale Keimdrüsenanlage (Gonaden) zu Hoden (Testis) oder Eierstöcken (Ovarien) determiniert. Diese Determinierung der Gonaden geschieht über eine komplexe Kaskade von geschlechtsdeterminierenden Faktoren, die in stimulierender oder inhibierender Art und Weise zusammenarbeiten, um entweder die typische männliche oder weibliche Geschlechtsentwicklung zu fördern.
Während früher die Lehrmeinung herrschte, dass nur die männliche Geschlechtsentwicklung biologisch aktiv programmiert werden muss und ansonsten ein weibliches Geschlecht einfach so entsteht („default pathway hypothesis“), wissen wir heute, dass auch die Entwicklung des weiblichen Geschlechts ein aktives, reguliertes Programm erfordert.
Die initialen Faktoren, wie sie heute für die Determinierung der Gonade in die männliche oder weibliche Richtung bekannt sind, werden in Abb. 1 schematisch dargestellt (Arboleda et al. 2014; Ono und Harley 2013). Der erste entdeckte Faktor wurde SRY (sex determining region on the Y chromosome) genannt. Bei Menschen mit Mutationen des SRY-Gens zeigte sich bei männlichem Chromosomensatz ein weiblicher Phänotyp (Berta et al. 1990). Chromosomal weibliche Mäuse, welche so manipuliert wurden, dass sie das SRY-Gen exprimierten, entwickelten sich zu „normalen“ männlichen Tieren (Koopman et al. 1991). Für die frühe männliche Entwicklung scheint neben SRY v. a. SOX9 eine entscheidende Rolle zu spielen, um in stimulierender Weise zusammen mit weiteren Transkriptionsfaktoren ein komplexes Netzwerk zur Entwicklung des Hodens zu unterhalten. Dies beinhaltet die Ausdifferenzierung des Hodengewebes zu
  • Leydig-Zellen, welche Testosteron produzieren,
  • Sertoli-Zellen zur Produktion von AMH und Inhibin B und
  • Samenkanälen (Tubuli), in welchen später die Spermien produziert werden (Arboleda et al. 2014; Ono und Harley 2013).
Im Gegensatz dazu entsteht beim weiblichen Programm in Abwesenheit von SRY und durch aktive Hemmung von SOX9 das Ovar mit seinem differenzierten Zellsystem (Granulosa, Theca-Zellen) und den Follikeln (Arboleda et al. 2014; Ono und Harley 2013). SOX9 wird dabei unterdrückt durch RSPO1, FOXL2, WNT4 und anderen Faktoren, die in einem komplexen Netzwerk zusammenarbeiten, welches noch nicht genau verstanden ist. Intrauterin scheint das Ovar bezüglich der Hormonproduktion praktisch inaktiv zu sein. Auch nach der Geburt bis zur Pubertät ist die Östrogenproduktion wahrscheinlich lediglich minimalst.

Geschlechtsdifferenzierung

Initial sind die sekundären Geschlechtsorgane bei männlichen und weiblichen Feten als Wolff- und Müller-Strukturen angelegt. Es findet erst sekundär, abhängig von der geschlechtsspezifischen Ausstattung an Entwicklungs- und Transkriptionsfaktoren (TF) und Hormonen eine spezifische Weiterentwicklung bzw. Aufräumaktion statt (Tab. 1). Dies erklärt, warum bei einer atypischen Entwicklung innere weibliche und männliche Geschlechtsorgane parallel vorkommen können. Entscheidend dabei ist die geschlechtsspezifische Gonade, welche im Hoden das männliche Hormon Testosteron (T – Leydig-Zelle) und das Anti-Müller-Hormon (AMH – Sertoli-Zelle) produziert, während das Ovar dies nicht tut.
Beim männlichen Feten führt AMH zur Regression der weiblichen Müller-Strukturen und Testosteron zur Stabilisierung und weiteren Differenzierung der männlichen Wolff-Strukturen, d. h. es entstehen Ductus deferens, Vesicula seminalis und Epididymis. Im Gegensatz dazu verkümmern im weiblichen Feten in Abwesenheit von Testosteron und AMH die Wolff-Strukturen, während sich die Müller-Strukturen zu Uterus, Tuben und oberem Drittel der Vagina differenzieren.
Das äußere Genital entsteht aus einer gemeinsamen, initial geschlechtsneutralen, embryonalen Anlage (Tab. 1 und Abb. 2). Die Entwicklung dieser neuralen Anlage zum männlichen oder weiblichen äußeren Genitale wird durch das Vorhandensein von männlichen Hormonen diktiert. Fehlen von Testosteron und Dihydrotestosteron (DHT) beim weiblichen System erlaubt die Entwicklung eines unauffälligen, weiblichen äußeren Genitals, welches der Neutralanlage ähnelt. Beim männlichen System hingegen verändert sich die Neutralanlage unter dem Einfluss von hohen DHT-Spiegeln massiv (Abb. 2). Die Genitalwülste verschmelzen zum Skrotum, welches die Hoden nach dem Descensus testis aufnehmen kann. Der Genitalhöcker entwickelt sich zum Penis und die Harnröhre wird verschlossen, verlängert und in die Basis des Penis verlegt. Diese Entwicklung geschieht von sakral nach ventral und resultiert in einem größeren Anogenitalabstand (AGD = anogenital distance) beim männlichen Neugeborenen im Vergleich zum weiblichen.
Praxistipp
Die genaue Inspektion des äußeren Genitals und die Messung des Anogenitalabstandes kann bei Fehlbildungen des äußeren Genitals Aufschluss über die intrauterine DHT- bzw. Androgenexposition geben.

Geschlechtsentwicklung nach der Geburt bis zur Geschlechtsreife

Bei Geburt sind die Gonaden abschließend festgelegt und die sekundären Geschlechtsorgane fertig angelegt. Im Normalfall kann das biologische Geschlecht eindeutig am äußeren Genital abgelesen werden. Während die weibliche Gonade bereits intrauterin hormonell inaktiv ist, bleibt sie es auch nach der Geburt bis zur Pubertät. Im Gegensatz dazu, produziert die männliche Gonade intrauterin, v. a. im zweiten Trimenon, hohe Mengen an Testosteron zur Vermännlichung des äußeren Genitals. Diese Produktion zeigt postnatal nochmals einen Anstieg in den ersten Stunden nach der Geburt und bricht dann vorübergehend zusammen, um aber während der sogenannten Minipubertät (ca. 30.–100. Lebenstag) nochmals anzusteigen, stimuliert durch die Gonadotropine LH (Luteinisierendes Hormon) und FSH (Follikelstimulierendes Hormon) (Kuiri-Hanninen et al. 2014). Während dieser Minipubertät findet eine weitere Differenzierung des Hodens statt und der Penis wächst weiter. Auch scheint eine weitere Prägung in die männliche Richtung stattzufinden. Die Rolle der Minipubertät beim weiblichen Geschlecht ist unklar; eine gewisse Weiterentwicklung des Ovars scheint zu erfolgen (Kuiri-Hanninen et al. 2014).
Praxistipp
Das Zeitfenster der Minipubertät kann zu diagnostischen Zwecken genutzt werden, um die Hormonproduktion der Gonaden zu testen und entsprechend über die Funktion jenseits der Pubertät im Erwachsenenalter eine Prognose zu stellen.
Im Anschluss geht die Gonadenachse in die präpuberale Ruhephase. Die Produktion von Sexualhormonen ist dann minimal. Erst mit Einsetzen der Pubertät erwacht die Funktion der Gonadenachse erneut und die sekundären Geschlechtsorgane und Geschlechtsmerkmale entwickeln sich zur vollen Reife unter dem Einfluss der geschlechtsspezifischen Sexualhormone (Tab. 1). Die Pubertätsentwicklung und ihre Varianten/Pathologien sind in einem separaten Kapitel beschrieben (Kap. „Normale und gestörte Pubertät – Diagnostik und Therapie“).

Psychisches Geschlecht und Geschlechtsidentitätsentwicklung

Das menschliche Hirn und damit die Psyche sind auch Sexualorgane. Das Hirn weist geschlechtsspezifische Unterschiede auf und produziert und reagiert auf Sexualhormone.
Psychisches Geschlecht meint das tiefe Bewusstsein für die individuelle Geschlechtsidentität einer Person. Davon abzugrenzen sind die Sexualität, also das sexuelle Begehren sowie das soziale Geschlecht. Soziales Geschlecht meint zum einen die Geschlechterrolle, welche traditionell ausgeprägt sein kann oder aber progressiv, indem eine Person aus traditionellen Rollen ausbricht. Soziales Geschlecht bezieht sich auch auf den Geschlechtsausdruck, also wie konform oder nonkonform das Äußere einer Person gezeigt und wahrgenommen wird.
Weil unser Hirn auf Sexualhormone reagiert, erstaunt es nicht, dass unser psychisches Geschlecht bereits intrauterin wesentlich geprägt wird (Meyer-Bahlburg 2013). Neben den endogenen, genetischen und hormonellen Faktoren, sind auch Umweltfaktoren prägend. Entsprechend müssen bei der Geschlechtszuweisung verschiedene Faktoren berücksichtigt werden. Dazu gehören körperliche Faktoren wie der Besitz eines Y-Chromosoms, der Grad und die Dauer der prä- und postnatalen Androgenexposition, das Fruchtbarkeitspotenzial, soziale und kulturelle Faktoren sowie Überlegungen zur Lebensqualität (Bakula et al. 2017).
Wie sich das psychische Geschlecht entwickelt, ist divers und höchst individuell. Wir wissen, dass die Geschlechtsidentitätsentwicklung von Menschen anders verlaufen kann als erwartet und nicht zwingend zu einer binären Geschlechtsidentität führt (Krege et al. 2019). Die prospektive Vorhersage der Geschlechtsidentität bei Kindern ist ungenau und das derzeitige Wissen über die Entwicklung der Geschlechtsidentität von Menschen mit und ohne VGE begrenzt. Die normative Zuordnung und binäre Kategorisierung in männlich und weiblich bei Menschen mit einer VGE ist aufgrund ihrer besonderen Biologie unzulänglich. Entsprechend stellen VGE die normative und binäre Vorstellung von Geschlecht infrage.

Varianten der Geschlechtsentwicklung

Klassifikation

Die Natur kennt keine Grenzen. Entsprechend gibt es auf jeder Ebene und zu jedem Zeitpunkt der Geschlechtsentwicklung die Möglichkeit für Abweichungen, die zu angeborenen Varianten der Geschlechtsentwicklung führen können.
Gemäß der griechischen Mythologie wurden Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung früher als Hermaphroditen, später gemäß klinischem Phänotyp als Intersexuelle bezeichnet.
Im deutschsprachigen Raum verwenden wir heute im medizinischen Kontext die Terminologie Varianten der Geschlechtsentwicklung (kurz: VGE) entsprechend der englischen Terminologie Differences of Sex Development) (kurz: DSD). Diese Terminologie wird auch von vielen intergeschlechtlichen Menschen akzeptiert, wohingegen der pathologisierende Begriff Störungen (Disorders) der Geschlechtsentwicklung abgelehnt wird.
Die in der Medizin aktuell gültige Klassifikation der verschiedenen VGE-Erscheinungsformen orientiert sich an der Molekulargenetik/-biologie und gilt seit dem Chicago Consensus 2006 (Tab. 2) (Houk et al. 2006; Hughes et al. 2006; Lee et al. 2006).
Tab. 2
Formen angeborener Varianten der Geschlechtsentwicklung gemäß Chicago-Consensus. (Hughes et al. 2006)
DSD-Typus
Formen
Spezifizierung/Beispiele
Geschlechtschromosomale Varianten
A: 47,XXY
Klinefelter-Syndrom und Varianten
B: 45,X
Turner-Syndrom und Varianten
C: 45,X/46,XY
Gemischte Gonaden Dysgenesie, ovotestikuläre Varianten der Geschlechtsentwicklung
D: 46,XX/46,XY
Chimärismus (z. B. Swyer-Syndrom), ovotestikuläre Varianten der Geschlechtsentwicklung
46,XY
A: Störungen der Gonaden- bzw. Hodenentwicklung
III: Hodenregression
IV: Ovotestikuläre Variante
B: Störungen der Androgensynthese oder der Androgenwirkung
I: Störungen der Androgensynthese (z. B. 5α-Reduktase-Mangel)
II: Störungen der Androgenwirkung (z. B. CAIS/PAIS)
III: LH-Rezeptordefekt
C: Andere
I: Syndromale Formen (z. B. Kloakenfehlbildungen)
II: Müller-Gang-Persistenz-Syndrom (z. B. AMH, AMH-Rezeptor-Defekte)
III: Angeborene, beidseitige Anorchie; isolierte, schwerere Formen der Hypospadie, beidseitiger Kryptorchismus
IV: Kongenitaler hypogonadotroper Hypogonadismus
46,XX
A: Störungen der Gonaden- bzw. Ovarentwicklung
I: Ovotestikuläre Varianten
II: Testikuläre Varianten (z. B. SRY+, SOX9)
III: Gonadendysgenesie
B: Androgenexzess
I: Fetal (z. B. AGS)
II: Fetoplazental
III: Maternal
C: Andere
I: Syndromale Formen (z. B. Kloakenfehlbildungen)
II: Anlageanomalien von Uterus und Vagina (z. B. Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKHS))
DSD Differences of Sex Development, CAIS Komplette Androgen-Insensitivität, PAIS Partielle Androgen-Insensitivität, LH Luteinisierendes Hormon, AMH Anti-Müller-Hormon
Im Folgenden werden einige häufiger auftretende Varianten der Geschlechtsentwicklung detaillierter beschrieben. Für umfassendere Darstellungen der aktuell genetisch definierten VGE-Formen sei auf einschlägige Review Artikel verwiesen; speziell für „copy number variations“ (Arboleda et al. 2014), für „46,XY DSD testicular development disorders and 46,XX ovarian development disorders“ (Ono und Harley 2013); schließlich für „46,XX DSD due to androgen excess and 46,XY DSD due to androgen deficiency“ (Ahmed et al. 2015; Flück und Pandey 2014).

Turner-Syndrom: Eine geschlechtschromosomale Variante der Geschlechtsentwicklung

Beim klassischen Turner-Syndrom (TS) liegt genetisch eine 45,X-Monosomie vor (50 %), beim Mosaik-TS ein variabler 45,X/46,XX-Chromosomensatz (Visser et al. 2013). Daneben gibt es weitere Varianten, bei welchen strukturelle Anomalien eines X-Chromosoms vorliegen oder auch Y-chromosomales Material vorkommt. Das TS tritt mit einer Frequenz von ca. 1:2500 Lebendgeburten auf. Das klassische TS zeigt einen weiblichen Phänotyp mit spezifischen syndromalen Auffälligkeiten, v. a. Turner Fazies, Nackenfalte, Myxödeme, inverser Haaransatz, Turner Finger- und Zehennägel, Schildthorax, dysproportionierter Kleinwuchs, Aortenstenose, Hufeisennieren und Hals-Nasen-Ohren-Probleme. Das phänotypische Spektrum beim TS (Mosaik) ist sehr breit und kann sich lediglich durch Kleinwuchs im Kindesalter oder durch primäre oder sekundäre Amenorrhoe im Jugendalter manifestieren.
Bezüglich der Geschlechtsentwicklung besteht aufgrund der chromosomalen Variante eine Fehlentwicklung der Ovarien. Beim klassischen TS gibt es bei Geburt typischerweise nur bindegewebige Streak-Gonaden ohne Follikel; beim Mosaik-TS ist der Follikelpool bei Geburt bereits vermindert und nimmt mit dem Alter rascher ab, sodass die Menopause sehr viel früher, im schlimmsten Fall vor der Pubertät auftritt.
Die Entwicklung der sekundären weiblichen Geschlechtsorgane ist beim TS bei Geburt normal, die Entwicklung der hormonabhängigen sekundären Geschlechtsmerkmale zum Zeitpunkt der Pubertät aber häufig fehlend (Visser et al. 2013). Dies manifestiert sich dann endokrinologisch als hypergonadotroper Hypogonadismus, welcher einer Hormonersatztherapie bedarf. Mädchen mit Mosaik-TS kommen häufiger spontan in die Pubertät (30 %), oft reicht es aber nicht bis zur Menarche oder sie zeigen früh eine sekundäre Amenorrhoe/prämature Menopause. Spontane Schwangerschaften bei TS sind eine Rarität beim klassischen TS und deutlich vermindert beim Mosaik-TS (2 %).
Frauen mit einem Turner-Syndrom entwickeln in der Regel eine weibliche Geschlechtsidentität.

(Gemischte) Gonadendysgenesie: 46,XY-DSD oder 46,XX-DSD mit atypischer Gonadenentwicklung

Abweichungen, welche in erster Linie die gonadale Determinierung betreffen, gehören in diese Kategorie (Ono und Harley 2013). Beim Swyer-Syndrom (complete gonadal dysgenesis) entwickelt sich z. B. die Gonade trotz 46,XY-Chromosomensatz wegen Genmutationen im SRY- (15 %) oder MAP3K1-Gen (18 %) nicht zum Hoden (Abb. 1); das weibliche Differenzierungsprogramm wird aktiviert und es entsteht eine XY-Frau mit Streak-Gonaden und weiblichem innerem und äußerem Genitale. Die Pubertätsentwicklung fehlt und es zeigt sich wie beim Turner-Syndrom ein hypergonadotroper Hypogonadismus, welcher mit einer hormonellen Ersatztherapie behandelt werden muss.
Im Gegensatz dazu entstehen bei Mutationen im CBX2-Gen trotz 46,XY-Chromosomen normale Ovarien und weibliche sekundäre Sexualorgane mit einem weiblichen Phänotyp, da das männliche Determinierungs- und Differenzierungsprogramm nicht zum Tragen kommt.
Genmutationen, die für das Determinierungsprogramm der weiblichen Gonaden wichtig sind (RSPO1, WNT4) führen hingegen bei 46,XX zur Entwicklung der Gonade in Richtung Ovotestis oder Testis, zur Rückbildung der Müller-Strukturen und zur Entwicklung eines intergeschlechtlichen oder männlichen äußeren Genitals. Entwickelt sich die Gonade gemischt, wird die sexuelle Differenzierung der sekundären Geschlechtsorgane auch nicht eindeutig. Dies resultiert darin, dass Wolff- und Müller-Strukturen sich parallel, partiell entwickeln und/oder zurückbilden und das äußere Genitale weder eindeutig weiblich noch männlich ist, sondern in der Entwicklung dazwischen stehen bleibt. Dieser gemischte Phänotyp zeigt häufig eine gewisse Asymmetrie, d. h. dass man neben einem einseitig eher weiblichen System auf der anderen Seite ein eher männliches System findet. Bekannte genetische Mutationen, die eine solche Variante verursachen können, sind z. B. bei 46,XX-DSD SRY-, RSPO1-, WNT4-Mutationen oder bei 46,XY-DSD SRY-Mutationen.
Außerdem findet man bei zahlreichen Varianten der Geschlechtsentwicklung dysgenetische Gonaden (Testes oder Ovarien mit atypischem Aufbau des Gewebes), was wiederum zu verschiedensten Varianten der sexuellen Differenzierung der Geschlechtsorgane führen kann (Ono und Harley 2013).

Adrenogenitales Syndrom bei 21-Hydroxylase Mangel: 46,XX-DSD durch Androgenexzess

Die häufigste und daher bekannteste 46,XX-DSD ist der 21-Hydroxylase-Defekt, besser bekannt als Adrenogenitales Syndrom (AGS) (Miller und Flück 2014).
Dieser autosomal-rezessiv vererbte Defekt betrifft das CYP21A2-Gen, welches für ein zentrales Enzym (die 21-Hydroxylase) in der Steroidhormonbiosynthese kodiert und damit für die Produktion von Aldosteron und Kortisol in der Nebennierenrinde (NNR) essenziell ist. Ein Mangel an diesen Hormonen führt via negativem Feedback zum Hypothalamus und zur Hypophyse zu einem Anstieg von ACTH (Adrenokortikotropes Hormon), welches die Nebennierenrinde (NNR) stimuliert, die dann aufgrund des Defekts nur vermehrt Androgene produzieren kann. Die klassische salzverlierende und simpel-virilisierende Form tritt bei ca. 1:12.000 Neugeborenen auf und zeigt keine oder nur eine minimal residuelle Enzymaktivität, weshalb sie sich unmittelbar nach Geburt klinisch manifestiert (NNR-Krise, 46,XX-DSD). Die nichtklassische (late-onset) Form tritt bei höher residueller Enzymaktivität später auf.
Obwohl es sich primär um eine NNR-Erkrankung handelt, verursacht der 21-Hydroxylase-Defekt durch den Androgenexzess intrauterin eine atypische Entwicklung des äußeren Genitales beim Mädchen. Chromosomen, Gonaden und inneres Genitale sind normal weiblich entwickelt, das äußere Genitale ist aber früh in der Entwicklung dem Androgenexzess ausgesetzt, weshalb es zur Virilisierung kommt (Abb. 2). Das äußere Genitale kann im Extremfall männlich aussehen (normal großer Penis mit auf der Spitze mündender Urethra, Raphe, Skrotum); typischerweise findet man jedoch keine Gonaden bei der Palpation. Menschen mit einem (schweren) 21-Hydroxylase-Mangel brauchen zum Überleben eine hormonelle Substitutionstherapie für ihren Mineralokortikoid- und Glukokortikoidmangel. Diese Therapie korrigiert auch den biochemischen Androgenexzess. Therapierte Mädchen zeigen eine normale (Pubertäts-)Entwicklung bei normaler Ovarfunktion. Frauen mit adrenogenitalem Syndrom (AGS) sind nicht grundsätzlich beeinträchtigt in ihrer Fertilität.
Eine Geschlechtsdysphorie und insbesondere eine queere sexuelle Orientierung (Homosexualität) kommt beiFrauen mit AGS häufiger vor als in der Allgemeinbevölkerung. In ihrer Geschlechterrolle sind sie nicht selten progressiv, indem sie aus traditionellen Geschlechterrollen ausbrechen (de Jesus et al. 2019).
46,XY-Individuen mit einem 21-Hydroxylase-Mangel zeigen nur den adrenalen Phänotyp und keine Auffälligkeiten in der Geschlechtsentwicklung. Da dieser genetische Defekt relativ häufig, potenziell letal und gut behandelbar ist, wird er im Neugeborenen-Screening in vielen Ländern gesucht (sog. Screening auf Erhöhung der 17-Hydroxylase) (Miller und Flück 2014).

Seltenere adrenogenitale Syndrome mit 46,XX-Androgenexzess oder 46,XY-Androgendefizienz

Genetische Mutationen sind beim Menschen für alle Enzyme und einige Kofaktoren bekannt, welche in der Steroidhormonbiosynthese involviert sind; sie treten aber sehr selten auf und sind alle autosomal-rezessiv vererbt (Ahmed et al. 2015; Flück und Pandey 2014; Miller und Flück 2014). Damit ist bei diesen genetischen Erkrankungen auch die Synthese der Sexualsteroide und damit häufig auch die Geschlechtsentwicklung (v. a. äußeres Genitale) betroffen. Je nach Lokalisation des Gendefekts ist der Phänotyp kombiniert adrenal plus VGE oder rein VGE. Folgende Genmutationen und entsprechende Phänotypen lassen sich unterscheiden (Flück und Pandey 2014):
  • 46,XX:
    • Neben CYP21A2-Mutationen verursachen folgende Genmutationen einen adrenalen und einen 46,XX-DSD-Phänotyp: HSD3B2, CYP11B1, POR;
    • einen isolierten 46,XX-DSD-Phänotyp findet man teils bei POR- und bei CYP19A1-Genmutationen.
  • 46.XY:
    • Einen adrenalen und 46,XY-DSD-Phänotyp findet man bei Genmutationen in StAR, CYP11A1, HSD3B2, CYP17A1, POR;
    • einen isolierten 46,XY-DSD-Phänotyp mit Untervirilisierung bei CYB5-, POR-, CYP17A1- (isolierter Lyase-Defekt), HSD17B3-, SRD5A2- und AKR1C2/4-Mutationen.
Grundsätzlich prägen die männlichen Hormone (Androgene) nicht nur die Entwicklung des äußeren Genitals maßgeblich; sie scheinen auch wichtig zu sein für die Prägung des Gehirns bezüglich der Geschlechtsidentität. Vereinfacht gesagt spiegelt damit wahrscheinlich der Status des äußeren Genitals den Virilisierungsgrad des Gehirns wider (Batista et al. 2019).

5α-Reduktase-Mangel: 46,XY-DSD mit verborgenem männlichem Phänotyp

Keine Regel ohne Ausnahme! Beim 5α-Reduktase-Mangel (SRD5A2-Gendefekt; autosomal-rezessiv vererbt) kann Testosteron nicht zu DHT potenziert werden, welches für die normale Virilisierung des äußeren Genitals beim Knaben essenziell ist. 46,XY-DSD-Kinder mit 5α-Reduktase-Mangel kommen meist mit einem typisch weiblichen äußeren Genitale zur Welt, haben aber daneben männliche Geschlechtsorgane (u. a. Hoden, die häufig im Inguinalbereich tastbar sind) und meist auch eine männliche Prägung des Gehirns. Wenn sie als Mädchen aufwachsen, passiert eine gewisse natürliche Geschlechtsveränderung bei der Pubertät durch den Anstieg der Androgene; das Genital entwickelt sich und virilisiert zunehmend (Flück und Pandey 2014).
Die Geschlechtsidentität von Menschen mit 5a-Reduktase-Mangel ist häufiger männlich; entsprechend gilt die Empfehlung, diese Kinder in einer progressiven Geschlechterrolle aufwachsen zu lassen mit dem Wissen, dass sie in ihrer Entwicklung nicht selten einen Wechsel ihrer Geschlechtsidentität von weiblich hin zu männlich erleben.
Wenn die Diagnose erst im Pubertätsalter gestellt wird, sollte die Person in Fragen ihrer Geschlechtsidentität begleitet und bei entsprechendem Wunsch in einem Geschlechterrollenwechsel unterstützt werden.

Kompletter und partieller Androgenrezeptordefekt: 46,XY-DSD bei fehlender/herabgesetzter Androgenwirkung

Dieser X-chromosomal vererbte Gendefekt wurde früher testikuläre Feminisierung genannt und ist eine der häufigsten Formen von 46,XY-DSD.
Beim kompletten Androgenrezeptordefekt (CAIS, complete androgen insensitivity syndrome) werden Androgene (sogar im Überfluss) von intakten Hoden produziert, können aber aufgrund des Gendefekts im Rezeptor (AR) ihre Wirkung nicht ausüben.
Entsprechend bleibt beim CAIS das biologische System frei von Androgeneffekten und entwickelt sich äußerlich unauffällig weiblich; die Geschlechtsidentität ist in der Regel weiblich. Gleichzeitig liegen ein 46,XY-Chromosomensatz sowie im Bauchraum Hoden und innere männliche Genitalorgane bei fehlenden Müller-Strukturen vor.
Kinder mit CAIS zeigen bei Pubertät eine Brustentwicklung, da die zirkulierenden Androgene, welche im Hoden produziert werden, in der Peripherie zu Östrogenen umgewandelt werden. Jedoch bleibt die Pubes- und Axillarbehaarung aus.
Anders ist die Situation beim partiellen Androgenrezeptordefekt (PAIS, partial androgen insensitivity syndrome); hier ist die Androgenwirkung am Rezeptor nur herabgesetzt.
Beim PAIS kann das äußere Genitale variabel virilisiert sein und die Geschlechtszuteilung bei Geburt ist besonders schwierig. Die Geschlechterrolle sollte möglichst progressiv und flexibel gestaltet und das Kind in einer ergebnisoffenen Geschlechtsidentitätsentwicklung unterstützt werden.
Kinder mit PAIS zeigen bei Pubertät gemäß ihrer Androgenrezeptorfunktion eine variable Entwicklung bezüglich Virilisierung des äußeren Genitals und Brustentwicklung.
Es besteht aber bei CAIS und PAIS immer eine primäre Amenorrhoe.

Diagnostik

Normalerweise wird das somatische Geschlecht eines Kindes bei Geburt gemäß klinischer Untersuchung des äußeren Genitals bestimmt, heute anlässlich der intrauterinen Ultraschalluntersuchungen bereits pränatal. Immer häufiger werden aber genetische Untersuchungen auch intrauterin gemacht, wobei durch eine Karyotypbestimmung auch die Geschlechtschromosomen bekannt werden.
Entsprechend werden Varianten der Geschlechtsentwicklung häufig bei Geburt, bei atypischem äußerem Genital oder bei inkongruenten Situationen zum Karyotyp bekannt.
Der Verdacht auf ein atypisches Genital besteht bei 1:300 Neugeborenen, eine bestätigte Variante der Geschlechtsentwicklung gemäß Klassifikation jedoch lediglich bei ca 1:5000 (Ahmed et al. 2015).
Am zweithäufigsten werden Varianten der Geschlechtsentwicklung zum Zeitpunkt der Pubertät erkannt; dies ist meist bei fehlender oder inkompletter Pubertätsentwicklung bei Jungen und Mädchen oder bei Virilisierung von Mädchen der Fall (Ahmed et al. 2015). Auf eine VGE-Symptomatik wird man im Kindesalter nicht selten auch bei der Diagnostik und Therapie von Abdominalproblemen (z. B. Inguinalhernien, Appendizitis etc.) aufmerksam.

Varianten der Geschlechtsentwicklung bei Geburt

Neugeborene mit atypischem äußerem Genital oder bekannter Diskrepanz zum Karyotyp sollten zur weiteren Betreuung der Familie nach der Geburt einem spezialisierten und multiprofessionellen VGE-Team vorgestellt werden (Abb. 3) (Ahmed et al. 2015; Ahmed und Rodie 2010).
Neben der psychologischen Betreuung der Eltern drängen sich in Hinblick auf die Therapie erste endokrinologische Untersuchungen auf, um v. a. einen eventuell vorliegenden, lebensbedrohlichen Stresshormonmangel (in der Regel bei AGS) früh zu diagnostizieren und einer Ersatztherapie zuzuführen. Es erfolgen eine detaillierte Anamnese und klinische Untersuchung des Kindes im Allgemeinen (Allgemeinstatus zum Erfassen von Zusatzfehlbildungen) und des äußeren Genitals im Besonderen. Bei der Genitaluntersuchung des Neugeborenen ist auf einen vertraulichen Rahmen zu achten; der Persönlichkeitsschutz des Kindes und seiner Eltern steht an oberster Stelle. Das Kind sollte so wenig wie möglich und durch so wenige Fachpersonen wie nötig genital untersucht werden.
Das Genital sollte bezüglich folgender fünf Strukturen genau beschrieben werden, damit ein diagnostisches Scoring (EGS: external genital score) möglich ist (van der Straaten et al. 2020):
  • Tastbarkeit und Lokalisation der Gonaden,
  • Phallusgröße,
  • Lokalisation des Meatus/Ureathraöffnung,
  • Fusion der Labioskrotalfalten,
  • Anogenitalabstand.
Der Anogenitalabstand wird zwischen Anus und hinterer Labioskrotalfalte bzw. Anus und Phallus gemessen, da dieser offenbar mit der intrauterinen Testosteronwirkung korreliert (Papadopoulou et al. 2013). Weitere Hilfsuntersuchungen erfolgen stufenweise und sind in Tab. 3 und 4 zusammengefasst.
Tab. 3
Work-up VGE bei Geburt: Erste Hilfsuntersuchungen bei Neugeborenen
Untersuchung
eher weiblich bei:
eher männlich bei:
Bemerkungen
Ultraschall inneres Genital und extraabdominal gelegene Gonade
Uterus
Gonade in abdomine/Ovarien
Keine Müller-Strukturen
Gonade/Testis extraabdominal
 
Negativ/46,XX
Positiv/46,XY
SRY auch positiv/negativ bei chromosomalen Aberrationen, SRY-Genmutationen
Glukose, Na, K, 17OHP
17OHP erhöht bei 21-Hydroxylase-Mangel (CYP21A2; POR);
transient erhöht bei 11-Hydroxylase-Mangel (CYP11B1) und 3β-Mangel (HSD3B2)
Idem, aber nur mit 46,XY-DSD-Phänotyp bei POR und HSD3B2
Cave: Nebenniereninsuffizienz
17OHP 17-Hydroxyprogesteron, VGE Variante der Geschlechtsentwicklung, DSD Differences of Sex Development
Tab. 4
Work-up VGE bei Geburt: Weitergehende Untersuchungen gemäß Resultaten aus den Erstuntersuchungen (Tab. 3)
Karyotyp
Plus weitere Befunde aus Erstuntersuchung
Zusatzuntersuchungen
Bemerkungen/Diagnose
Abnormaler Karyotyp
Mosaik; Zusatzmissbildungen extragenital
Zusätzliche genetische Untersuchungen: Karyotyp aus anderem Gewebe, Array CGH, MLPA
Sex Chromosomale DSD (z. B. 45,X TS)
46,XX
(in >80 % 21-Hydroxylase-Mangel)
Uterus, Ovarien innerlich; äußeres Genitale virilisiert,
±hohes 17OHP,
±NN-Insuffizienz
Steroidprofil aus Plasma/Urin; evtl. ACTH-Test; spezifische Genuntersuchung oder Gen-Panel (NGS)
Steroidhormonbiosynthese-Defekt
Müller-Strukturen nicht zu weiblichen inneren Organen entwickelt,
Gonaden?
Steroidprofil (Androgene); AMH- und hCG-Test zur Funktionsprüfung der Gonade,
Laparoskopie/Zystoskopie und Gonadenbiopsie
Defekt im Bereich Ovar-Determinierung
46,XY
(>50 % ohne genaue Diagnose)
Keine Hinweise auf Müller-Strukturen im Sonogramm; äußeres Genital untervirilisiert; ±Nebenniereninsuffizienz
Steroidprofil aus Plasma/Urin (v. a. Androgene); LH, FSH, AMH, Inhibin B;
hCG-Test; evtl. ACTH-Test; spezifische Genuntersuchung oder Gen-Panel (NGS); evtl. Laparoskopie/Zystoskopie und evtl. Gonadenbiopsie
Steroidhormonbiosynthese Defekt:
• a) isoliert die Androgene betreffend,
• b) plus Glukokortikoid-/Mineralokortikoidmangel (NN-Insuffizienz);
Androgenrezeptordefekt (komplett: CAIS; partiell: PAIS)
Hinweise auf (abortive) Müller-Strukturen im Sonogramm
Steroidprofil aus Plasma/Urin (Androgene); LH, FSH, AMH, Inhibin B;
hCG-Test; Laparoskopie/Zystoskopie und Gonadenbiopsie; spezifische Genuntersuchung oder Gen-Panel (NGS)
Dysgenetische Gonade
MLPA multiplex ligation probe amplification, Array CGH array comparative genomic hybridization, NN Nebennieren, hCG humanes Chorion-Gonadotropin, LH luteinisierendes Hormon, FSH Follikelstimulierendes Hormon, AMH Anti-Müller-Hormon, NGS next generation sequencing (whole exome/genome sequencing)
Erstuntersuchungen umfassen eine Sonografie des Unterbauchs/Genitalregion mit Frage nach Uterus, Gonadenlage und -charakter, eine Karyotypbestimmung und minimale biochemische Untersuchungen (17OHP, AMH).
Gemäß Erstuntersuchungen erfolgen dann weitere biochemische Untersuchungen mit evtl. Stimulationstestungen, genetische Untersuchungen und eine diagnostische Laparoskopie/Zystoskopie zur Visualisierung der Entwicklung des inneren Genitals. Eventuell ist ein ACTH-Test kurz nach der Geburt ebenfalls nötig, um den Verdacht auf AGS zu erhärten und den verantwortlichen Enzymdefekt genau einzuschränken, bevor eine Therapie gestartet wird. Die Messung des Anti-Müller-Hormons hilft, die Gonadenfunktion (Sertoli-Zelle) einzuschätzen. Ein hCG-Test macht Sinn zur weiteren Diagnostik der Gonadenfunktion und wird während der Minipubertät (30.–100. Lebenstag) durchgeführt, wobei auf einen Anstieg der Androgene (T, DHT und Vorstufen) geachtet wird.
Die diagnostische Laparoskopie/Zystoskopie ist im zeitlichen Ablauf meist nach der biochemischen Testbatterie anzusetzen und beschränkt sich heute eigentlich auf Diagnostik (Visualisierung der inneren Genitalorgane, (Gonaden)Biopsie). Eventuell können eine Herniotomie und Orchidopexie gleichzeitig vorgenommen werden; eine gleichzeitige Gonadektomie und/oder eine Hypospadie-Korrektur hingegen werden nicht empfohlen.
Die für jedes Kind mit einer VGE individuell festgelegte Planung und Interpretation der Diagnostik erfordert Spezialwissen und die gute Zusammenarbeit zwischen den einzelnen medizinischen und nicht-medizinischen Fachpersonen eines multidisziplinären VGE-Teams.
Ziel ist es – nach Möglichkeit und Bedürfnis – jeder intergeschlechtlichen Person eine Diagnose bis auf Ebene der Molekulargenetik zu ermöglichen. Dies gelingt in den meisten Fällen mit 46,XX-DSD; in Fällen mit 46,XY-DSD bis heute aber nur bei ca. 50 % der Fälle. Eine genaue Diagnose erleichtert die Empfehlung, wie eine vorläufige meist binäre (amtliche und soziale) Geschlechtszuteilung vorgenommen werden kann. Dies wird entsprechend der gültigen, normativen Gesellschaftsstrukturen westlicher Gesellschaften von den meisten Eltern gewünscht. Eine genaue Diagnose erlaubt auch prognostische Überlegungen bezüglich Pubertätsentwicklung und Fertilität.

Varianten der Geschlechtsentwicklung im Pubertätsalter

Varianten der Geschlechtsentwicklung findet man bei Jugendlichen, die sich mit fehlender oder nicht kompletter Pubertätsentwicklung präsentieren und bei Mädchen, die zum Zeitpunkt der Pubertät Zeichen der Virilisierung entwickeln.
Ein markantes Zeichen ist die primäre Amenorrhoe, welche bei fehlender Brustentwicklung im Alter von 14 Jahren, mit Brustentwicklung spätestens mit 16 Jahren, abgeklärt werden soll. Ein mögliches Abklärungs- und Diagnoseschema ist in Abb. 4 dargestellt (gemäß Ahmed und Rodie 2010). Die Abklärung umfasst eine genaue Anamnese und klinische Untersuchung, wobei die gynäkologische Untersuchung zur Schonung evtl. in Narkose vorgenommen werden soll. Daneben empfiehlt sich ein abdominaler Ultraschall (mit Frage nach Uterus und Ovarien) neben Laboruntersuchungen (LH, FSH, Prolaktin, TSH, SHBG, Östradiol, Androstendion, Testosteron, 17OHP, evtl. Steroidprofil aus Plasma/Urin, evtl. Stimulationstest mit hCG/LHRH) und ggf. einer Karyotypbestimmung und einem MRT zur Darstellung der inneren Strukturen.
Werden neben der primären Amenorrhoe eine Virilisierung (Kliteromegalie, Hirsutismus) bei fehlendem Uterus (keine Müller-Strukturen) gefunden, kann sich dahinter eine 46,XY-DSD-Variante bei 17β-Mangel (HSD17B3) oder 5α-Reduktase-Mangel (SRD5A2) verstecken. Alternativ kommt auch ein PAIS differenzialdiagnostisch infrage, obwohl sich dieser meist bereits bei Geburt mit einem unklaren äußeren Genitale manifestiert. Werden hingegen Müller-Strukturen gefunden, dann kommen insbesondere folgende Varianten ursächlich infrage:

Therapie

Die Therapie bei Varianten der Geschlechtsentwicklung ist keine ursächliche, da die Variante (meist) genetisch oder unbekannter Ursache ist und sehr früh (überwiegend 1. Trimenon) in utero passiert. Zwar kann durch pränatale genetische Diagnostik eine Wiederholung bei bekanntem Gendefekt durch Abtreibung vorgebeugt werden. Außerdem besteht bei bekanntem 21-Hydroxylase-Defekt (CYP21A2-Gen) die Möglichkeit einer pränatalen Therapie mit Dexamethason, welche die Virilisierung des äußeren Genitals beim Mädchen weitgehend verhindert, aber wegen möglichen Nebenwirkungen v. a. auf die Hirnentwicklung umstritten ist (Dreger et al. 2012).
Grundsätzlich erfordert die Behandlung einer Variante der Geschlechtsentwicklung eine individualisierte Therapie durch ein erfahrenes, multidisziplinäres Team in enger Zusammenarbeit mit dem Kind und seinen Eltern (Abb. 3).
Ein VGE-Team umfasst medizinische und nichtmedizinische Fachpersonen. Als Minimalstandard sollte das Team folgende Disziplinen umfassen: Pädiatrische Endokrinologie und Biochemie, klinische Genetik, Kinder- und Jugendpsychosomatik/Psychiatrie, Kinder- und Jugendgynäkologie, pädiatrische Urologie und/oder Chirurgie, klinische Ethik. Je nach Diagnose, Therapieplan, Alter des Kindes und den Bedürfnissen der Familie unterscheidet und verändert sich die Zusammensetzung des Behandlungsteams (Ahmed et al. 2015). Das Team sollte mit nationalen Vereinigungen intergeschlechtlicher Menschen und spezifischen Selbsthilfegruppen vernetzt sein. Die Eltern/Jugendlichen sollten über entsprechende Kontakt- und Austauschmöglichkeiten informiert werden.

Chirurgische Eingriffe

Die anatomischen Konsequenzen von Varianten der Geschlechtsentwicklung sind teils chirurgisch korrigierbar, wobei diese Korrekturen kontrovers sind, wenn sie am nicht-urteilsfähigen Kind und nur mit dem Einverständnis der Eltern vorgenommen werden. Diese Sachlage verschärft sich noch, wenn sie keine medizinisch indizierte Notwendigkeit darstellen, d. h. beim Unterlassen, keine negativen gesundheitlichen Konsequenzen für das Kind haben (z. B. Infekte, Harnobstruktion, Gewebeentartungsrisiko etc.) (Cools et al. 2018). Hat man früher bei Kindern mit atypischem Genital meist in den ersten 1–2 Lebensjahren eine normalisierende chirurgische Geschlechtsveränderung vorgenommen, ist man heute viel zurückhaltender, v. a. in ungelösten Fällen von 46,XY, bei denen die Geschlechtsentwicklung inklusive Entwicklung der Geschlechtsidentität unklar ist. Unsicher ist die Situation aktuell aber auch bei der Hypospadie-Korrektur und bei der Korrektur eines schwer virilisierten äußeren Genitals bei Mädchen mit AGS (Prader Stadium >3–4). In beiden Situationen scheint eine frühe Chirurgie bessere kosmetische und funktionelle Resultate zu zeigen und häufig auch von Eltern und rückblickend von Betroffenen gewünscht zu sein (Eckoldt-Wolke 2014; Springer und Baskin 2014; Wolffenbuttel und Crouch 2014).
Auch in Bezug auf die Notwendigkeit zur Gonadektomie wegen Gewebeentartungsgefahr bestehen offene Fragen, die aktuell in Studien angegangen werden. Generell scheint das Tumorrisiko für verschiedene Varianten der Geschlechtsentwicklung sehr heterogen zu sein, wobei das Vorhandensein von Y-Material essenziell ist und das Risiko durch Gewebe(marker)analyse und Scoring-Systeme kalkulierbar scheint (Cools et al. 2014; van der Zwan et al. 2015). Außerdem ist bei der Überlegung zur Frage nach einer Gonadektomie mitentscheidend, ob die künftige Hormonproduktion der Gonade in Konkordanz oder Dysharmonie zur Geschlechtsidentität des Kindes steht.
Prospektive Langzeitstudien zum Thema sollen in Zukunft Aufschluss geben, in welchen Fällen und wann operative Eingriffe vorteilhaft sind. Dafür werden heute die Daten von Menschen mit Varianten in der Geschlechtsentwicklung mit deren Zustimmung in Registern geführt (http://www.i-dsd.org).
Heute muss die Entscheidung für einen chirurgischen Eingriff am Genital von einem multiprofessionellen Behandlungsteam und zusammen mit den Eltern individuell für jedes Kind getroffen und getragen werden. In Fällen, in denen es nicht zum gesundheitlichen Nachteil eines Kindes ist, wird empfohlen, die Entscheidung für eine Chirurgie bis zum Zeitpunkt der Mitentscheidungsfähigkeit des Kindes aufzuschieben.

Hormonelle Therapien

Wird eine Variante der Geschlechtsentwicklung durch einen Steroidhormonbiosynthese-Defekt verursacht, bei welchem ein Mangel an Mineralokortikoiden und Glukokortikoiden besteht, ist das Neugeborene wenige Tage nach der Geburt lebensbedrohlich gefährdet.
Praxistipp
Nach Diagnose eines AGS (21-Hydroxylase Mangel) bei einem Neugeborenen soll sofort eine Hormonersatztherapie mit Hydrocortison (10–15 mg/m2/Tag) und evtl. Fludrocortison (50–300 μg/Tag) zur Behandlung der Nebenniereninsuffizienz begonnen werden (Miller und Flück 2014).
Der Ersatz von fehlenden endogen produzierten Sexualhormonen ist hingegen erst zum Zeitpunkt der Pubertät notwendig (Hewitt und Zacharin 2015). Eine Ausnahme bildet die probatorische Behandlung eines Mikropenis (<25 mm bei Termingeborenen) mit Testosteron während der Zeit der Minipubertät, um das Peniswachstum zu stimulieren. Zweck der hormonellen Therapie ab dem Zeitpunkt der Pubertät ist nicht nur die Stimulation/Simulation der Pubertätsentwicklung (sekundäre Geschlechtsmerkmale, Wachstumsspurt) an sich, sondern auch die Stimulation anderer, sexualhormonabhängiger Veränderungen am Metabolismus (z. B. Körperzusammensetzung zwischen Knochen – Fett – Muskel) und an der Persönlichkeit und Psyche, welche der allgemeinen Lebensqualität (QoL) zuträglich sind (Hewitt und Zacharin 2015).
Allgemein gilt, dass bei fehlender endogener Sexualhormonproduktion ungefähr zum Zeitpunkt der üblicherweise einsetzenden Pubertätsentwicklung (Mädchen ab 10–11 Jahren; Jungen ab 12–13 Jahren) mit der Ersatztherapie von entweder natürlichen Östrogenen oder einem Testosteronpräparat in niedriger Dosierung gestartet wird.
Unter Kontrolle wird die Dosierung dann über 2–3 Jahre zur Ersatzdosis für Erwachsene aufgebaut. Die Ersatztherapie mit Östrogenen soll bei einem weiblichen System mit Uterus zum Schluss mit einem Gestagenpräparat ergänzt werden, was dann zu regelmäßigen Menstruationen führt; wahlweise kann dann zur Vereinfachung auch auf eine übliche antikonzeptionelle Pille gewechselt werden.
Anders ist die Situation, wenn eine funktionelle Gonade vorhanden ist, welche entweder potenziell erwünschte Hormone oder unerwünschte Hormone produziert. Ein Beispiel für den ersten Fall (erwünscht) ist die testikuläre Feminisierung bei komplettem Androgenrezeptordefekt. Unter der Stimulation durch die Gonadenachse produziert der Hoden ab Pubertät Unmengen an Testosteron, welche in der Peripherie durch Aromatisierung zu Östrogenen umgewandelt werden und eine spontane Brustentwicklung und Feminisierung des Körperbaus bewirken. Leider ist die Produktion an Östrogenen ungenügend, um den Aufbau einer normalen Knochenmasse zu ermöglichen, sodass eine Zusatz-/Ersatztherapie mit Östrogenen trotzdem notwendig ist, auch wenn die Gonade in situ belassen wird.
Beginnt eine Gonade zum Zeitpunkt der Pubertät hingegen unerwünschterweise Hormone zu produzieren, die nicht kongruent zum gewählten bzw. erlebten Geschlecht sind (z. B. partieller Androgenrezeptordefekt mit weiblicher Identität und drohender Virilisierung bei der Pubertät), kann entweder die Gonade mit GnRH-Analoga blockiert oder eine Gonadektomie erwogen werden. Die Sexualhormone des gewählten Geschlechts können dann dazu substituiert werden, um die Entwicklung der „passenden“ sekundären Geschlechtsmerkmale zu stimulieren.
Wichtig ist, dass vor einer geschlechtsbestimmenden Hormontherapie im Jugendalter die Frage der Geschlechtsidentität geklärt, mindestens aber thematisiert ist, da die geschlechtsspezifischen hormonellen Effekte im Falle einer später veränderten Entscheidung nur teilweise reversibel sind.
Weitere hormonelle Therapien, die im Zusammenhang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung mit teils intakten Gonaden diskutiert werden, sind Therapien mit Gonadotropinen (LHRH, LH, FSH, hCG). Diese kommen zur Stimulation/Modulation der Gonaden zur Fertilitätserhaltung oder Eizellen/Follikel oder Spermiengewinnung infrage. Solche Therapien werden heute bereits beim Mosaik-Turner-Syndrom oder beim Patienten mit hypogonadotropem Hypogonadismus erfolgreich angewendet.

Psychologische Behandlung

Neben der hormonellen Therapie und Chirurgie ist eine professionelle psychologische Begleitung von Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung und deren Familien zentral. Auch wenn nicht alle Eltern und Kinder psychologische Behandlung in Anspruch nehmen, sollte eine spezialisierte Psychologin oder ein Psychiater fester Bestandteil von professionellen VGE-Teams sein. Die Geburt eines Kindes mit unklarem Geschlecht führt bei Eltern nicht selten zu grossen Versunsicherungen und vielen Fragen. Idealerweise haben alle Eltern eines Neugeborenen niederschwelligen Zugang zu psychologischer Unterstützung. Auch Jugendliche und Erwachsene, die sich in medizinischer Behandlung befinden, sollten die Möglichkeit (lebenslanger) psychologischer Begleitung erhalten (Ahmed et al. 2015).
Die Behandlung verfolgt das Ziel einer ergebnisoffenen, bedarfsorientierten und entwicklungsfördernden Unterstützung. Eltern und Jugendlichen sollen entsprechend ihren allfälligen Belastungen, Anpassungsschwierigkeiten, Ängsten und Identitätsunsicherheiten unterstützt und mit anderen Familien vernetzt werden.
Ziel einer psychologischen Behandlung ist es, die Lebensqualität und psychische Gesundheit zu erhalten respektive zu verbessern. Sie stärkt die Eltern-Kind-Beziehung und fördert ein akzeptierendes Diagnoseverständnis und ein positives Selbstbild. Die professionelle Haltung ist von Respekt und Akzeptanz gegenüber vielfältigen geschlechtlichen Lebensrealitäten geprägt.

Gesellschaftliche und kulturelle Aspekte

Haben Varianten der Geschlechtsentwicklung für intergeschlechtliche Menschen den Charakter einer chronischen Krankheit oder sind sie eine Variation der Natur? Tatsache ist, dass VGE in der westlichen Gesellschaft und anderswo heute (noch) stigmatisiert und tabuisiert werden, vielleicht gerade deshalb, weil sie die sensitiven und kontrovers diskutierten Themen geschlechtlicher Vielfalt, der körperlichen Nonkonformität und der Sexualität betreffen. Warum gibt es in manchen Ländern (wie der Schweiz) kein drittes Geschlecht für Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung? Warum muss sich ein Individuum der Binarität der Geschlechtszuweisung Mann/Frau in medizinischen und amtlichen Belangen beugen? Warum braucht es überhaupt eine Geschlechtszuweisung?
Menschen mit VGE haben sich in den letzten 20 Jahren zu Betroffenengruppen zusammengetan und auf ihre Anliegen aufmerksam gemacht (z. B. XY-Frauen.de). Sie haben die medizinische Behandlungspraxis kritisch infrage gestellt und dadurch neue Entwicklungen in Gang gesetzt. Auch die Gesellschaft wurde in den vergangenen Jahren zunehmend sensibel und entsprechend offener für geschlechtliche Vielfalt und LGBTIQ-Themen (LGBTIQ: lesbisch, schwul (gay), bisexuell, transident, intergeschlechtlich und/oder queer). Gleichzeitig bleiben aufgrund noch fehlender Daten viele medizinische Fragen unbeantwortet. Intergeschlechtliche Menschen machen uns betroffen, wenn sie von ihren Schwierigkeiten und Diskriminierungen erzählen, mit denen sie im Alltag konfrontiert sind. Hier gibt es auf gesellschaftlicher wie juristischer Ebene noch deutliches Verbesserungspotential. Bedenkt man die Komplexität von Geschlecht auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene, so erscheint ein Denken und Handeln in den vielfältigen Zwischentönen nicht nur wünschenswert, sondern konsequent und notwendig. Nur so kann geschlechtlicher Vielfalt und intergeschlechtlichen Menschen adäquat und respektvoll begegnet werden.
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